Zeit by Stefan Klein

Zeit by Stefan Klein

Autor:Stefan Klein [Klein, Stefan]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783104032511
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-05-22T22:00:00+00:00


Drill zur Pünktlichkeit

Eben weil Zeit der Stoff sei, aus dem das Leben bestehe, empfahl Benjamin Franklin, keine Zeit zu verlieren. Seine Aufforderung ist tief in die westliche Kultur eingesickert. Wir haben sie noch stärker verinnerlicht als die ebenfalls von dem amerikanischen Erfinder stammende Formel »Zeit ist Geld«. Diese beiden Behauptungen sind uns so selbstverständlich geworden, dass sie uns fast wie Naturgesetze vorkommen. Aber gelten sie zwangsläufig? Wenn Zeit der Stoff des Lebens ist, ließe sich daraus genauso gut folgern, dass man möglichst freigiebig damit umgehen soll.

Die Fischer und Bauern auf der Malaysischen Halbinsel Kentalan etwa, deren Sitten der amerikanische Anthropologe Douglas Raybeck studiert hat, dürften Franklins Sätze mindestens so sonderbar finden wie die Liliputaner Gullivers zwanghaften Blick auf die Uhr. Für sie ist nicht Tempo, sondern Langsamkeit wertvoll. »Die Sprache des Charakters« heißt der Verhaltenskodex dieser Kultur, der verlangt, dass jeder sich viel Zeit für soziale Verpflichtungen nimmt. Wer hastet, ist ein Flegel, denn er erweist damit der Gemeinschaft Respektlosigkeit.[148]

Uns sind solche Skrupel ausgetrieben. Zum einen beruht die Industriegesellschaft darauf, dass Angestellte ihre Zeit an ein Unternehmen verkaufen. Zum anderen verlangt die Arbeitsteilung einen verbindlichen Rhythmus des Lebens für alle – wann Züge fahren, wann man zu erreichen ist. Ohne die Herrschaft der Uhren könnte ein solches System nicht funktionieren. »Die Uhr, nicht die Dampfmaschine war die maßgebende Maschine für das moderne Industriezeitalter«, schrieb der amerikanische Technikhistoriker Lewis Mumford.

Dass wir es so weit gebracht haben, war nicht nur eine technische Leistung, sondern vor allem eine der Kultur. Denn der Takt der Uhren entspricht, wie im ersten Teil dieses Buches ausgeführt, der menschlichen Natur überhaupt nicht. So wurde die Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert regelrecht umerzogen. Schulbücher begannen auf den Wert der Zeit hinzuweisen.[149] (Der »Bildungsplan« für Grundschulen des Landes Baden-Württemberg nennt noch heute das folgende Unterrichtsziel: »der verantwortliche Umgang des Kindes mit seiner Zeit«.[150])

Im Katalog einer amerikanischen Uhrenfirma der Jahrhundertwende hieß es: »Ordnung, Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit sind die Kardinalprinzipien, um das Denken junger Menschen zu prägen. Diese Prinzipien kann man in der Schule durch nichts anschaulicher vermitteln als durch eine Uhr.« Ein Konkurrenzunternehmen warb mit der Behauptung, dass ihr Spitzenmodell mit dem sinnigen Namen »Autokrat« »militärische Präzision liefert und Tatkraft, Pünktlichkeit und Genauigkeit lehrt, wo immer sie eingesetzt wird«.[151] Und der Ingenieur Frederick Taylor untersuchte die Bewegungen der Arbeiter bis in jede Muskelregung, damit die Handgriffe am Fließband möglichst schnell ablaufen konnten.

Die Propaganda hatte Erfolg. Nach der Uhr zu leben wurde gleichbedeutend mit Aufstieg, Taschenuhren wurden zum Statussymbol. Arme im Amerika dieser Epoche gründeten Uhrenclubs, um mit vereinten Ersparnissen ein solches Gerät anschaffen zu können. Schon im Jahr 1881 warnte jedoch der Neurologe George Beard in seinem Buch »American Nervousness« seine Landsleute davor, dass die zunehmende Bedeutung der Pünktlichkeit bei vielen Menschen die Befürchtung auslöse, eine Verspätung von einigen Augenblicken könne die Hoffnungen eines ganzes Lebens zerstören. Und die illustrierten Zeitschriften Europas widmeten sich einem neuen Krankheitsbild: Der »Neurasthenie«, welche lange Artikel als Erschöpfung durch ein zu hohes Arbeitstempo beschrieben. Die Menschen begannen, ihre Aufmerksamkeit auf immer kürzere Zeitabschnitte zu richten.



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